Obersuhl im 19. Jahrhundert

 

1808 kam der erste Breitbart, der Johann Justus, nach Obersuhl .  Die Hagelgans lebten zu diesem Zeitpunkt schon lange in Obersuhl . Über die 1808 folgenden Jahrzehnte Obersuhls  mit u.a. seinen Breitbarts und Hagelgans,   -  Obersuhl hatte  1875 etwa 1400 Einwohner , im Jahr 2003 um die 3200  -  schreibt (nach 1891) der Obersuhler Pfarrerssohn und "Geheime Studienrat" Ferdinand Schantz (1844-1919) in "Obersuhl -Geschichte eines Dorfes" 1971 von Georg IDE ab Seite 98 unter anderem:

Unsere Ortschaft ist ein echtes deutsches Bauerndorf. Langgestreckt zieht es sich am Wasser, an der Suhl hin, die aus dem Rhäden,  einem großen Sumpf kommend, einst in zwei Armen das Dorf durchzog, jetzt aber zu einem Wasserlauf vereinigt ist. Zwei Hauptstraßen, parallel der Suhl, durchziehen es. In der Mitte der einen liegt der alte Mittelpunkt, die Kirche, daneben  etwas tiefer das Pfarrhaus. Seitwärts der Kirche sehen wir die Dorflinde, um sie herum den alten Versammlungsplatz der Bewohner, wo von alters her die Gemeinde zusammentraf, auch in meiner Jugend noch die Stätte, wohin der Bürgermeister zur Mitteilung obrigkeitlicher Erlasse berief An den Hauptstraßen, meist in der Mitte des Dorfes, liegen die Bauernhöfe. Manche kleineren Höfe liegen seitwärts der Hauptstraße, in den Gassen oder in Ecken, ganz nach altgeramischen Brauch, wie ihn Tacitus in seiner Germania schildert: sie wohnen getrennt und zerstreut, wie ihnen eine Quelle, ein Feld oder Wald gefiel.

Die Höfe

 Alle Höfe sind in der fränkischen Bauweise errichtet, meist ein offenes Rechteck bildend. An der einen Seite das Wohnhaus-, an derselben Seite, durch einen schmalen Raum getrennt, die Viehställe. An der hinteren kurzen Seite die Scheune mit großem, hohem Tor - eine praktische Einrichtung, da so der Bauer, zumal bei drohendem Regen, mit dein hochbeladenen Wagen einfahren und seine Ernte in Sicherheit bringen konnte. Auf der dritten Seite liegen weitere Viehställe und Schuppen aller Axt. Die Seite nach der Straße ist meist offen, hier und da mit einer Wand aus Staketen oder Brettern geschlossen, in deren Mitte sich ein breites Tor befindet. Vor den Viehställen ist der Platz, den ein ordentlicher Bauer mit Liebe hegt und pflegt,  die Miste (die Dungstätte), von der aus seine Felder Kraft und Mittel zu neuem Ertrag erhalten. Das Wohnhaus liegt meist unmittelbar an der Straße, es ist Fachwerkbau, starke Holzbalken geben ihm Halt und Festigkeit. Die einzelnen Fachwerke zwischen den Balken sind in älteren Häusern mit Holzgeflecht und darauf geworfenem Lehm ausgefüllt, in neueren mit Backsteinen oder Lehmsteinen. Eine weiße Kalkschicht überdeckt die Lehmwand und schützt sie gegen Regen, hier und da sieht man auf solchem Kalkbewurf die einfache Malerei eines Dortkünstlers, etwa eine Blume. Auch Haussprüche fehlen nicht, teils ernsten, teils humoristischen Inhaltes. Die Balken sind vielfach mit Ölfarbe gestrichen; bei reichen Bauern sind die Eckbalken an der Vorderseite mit einfachen Verzierungen geschmückt. Namentlich der Balken über der Haustür zeigt oft die Namen des Ehepaars, das den Bau aufgeführt hat und die Jahreszahl, daneben einen frommen Spruch.

Der schönste Bauernhof war einst der sogenannte  Lehnshof, früher ein Lehen der Rotenburger Landgrafen, später freies Eigentum des Besitzers . Der Hof, dicht neben der Linde gelegen,  war das Muster einer fränkischen Siedlung: an der Straße das Wohnhaus, ein schönes altes Bauernhaus mit starken Balken, über der Haustür ein Spruch: “Gottes Güt und Barmherzigkeit , ist stets mein Stab und mein Geleit”  - neben dem Wohnhaus die Ställe zum Teil - davor der große Hofraum, im Hintergrund und an der anderen Seite die Scheunen, Ställe und Schuppen. Hinter dem Hof liegt vielfach ein Garten, ein Teil ist Grasgarten, der andere Gemüse- und Blumengarten. Hier zieht die Bäuerin(und die Töchter) mit Sorgfalt die seit alters beliebten Blumen: Nelken, Aurikeln, Tulipanen, Tausendschön und andere; meist findet sich auch ein Rosmarinstock, dessen Zweige bei Hochzeiten und Taufen, vor allem bei Begräbnissen begehrt sind.

So verrät das Ganze schon von außen, welcher Sinn in unserem Bauernstand herrscht: Gediegenheit, Ordnung und Freude an eigenem Besitz, aufrichtige Religiosität daneben Sinn für Humor und für einigen Schmuck seines Daseins.  

Ebenso freundlich ist das Innere des Hauses. Nach der Straße zu liegt die Wohnstube, hell und sauber. Der Fußboden ist mit weißen Holzdielen belegt , die des Sonnabends mit einem Schrupper unter Verbrauch von reichlichem Wasser gereinigt und später mit weißem Sand bestreut werden. Die Wände waren mit Kalkfarbe gestrichen, Tapeten waren noch unbekannt. An der Wand liefen befestigte hölzerne Bänke,  davor stand der Tisch, stark und gewichtig, die Beine vielfach über Kreuz laufend ; an den anderen Seiten des Tisches standen die gewöhnlichen Bauernstühle, die Rücklehnen meist mit einem herzförmigen Ausschnitt. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein Schrank mit Porzellan oder eine Kommode. Hinter der Tür war der mächtige Ofen, der von außen mit Holzklötzen, namentlich Wurzelstöcken geheizt wurde und eine behagliche Wärme verbreitete. Feuerung mit Kohlen war unbekannt. Hier und da fand man noch alte Öfen, deren Platten Szenen aus dem Menschenleben darstellten, oft auch biblische Bilder. Die neueren Öfen hatten freilich nur Platten mit erhabenen Linien. Über dem eisernen Unterbau des Ofens erhob sich der aus Backsteinen gemauerte Oberbau mit der Kachel, in der die Speisen oder der Kaffee warmgestellt wurden. Für die Kinderschar war die Kachel besonders wichtig. Wie herrlich konnte man darin Äpfel braten, wie lieblich klang das Zischen des ausströmenden Saftes, der verriet, daß der Bratapfel bald zum Verspeisen gar war. In dem Winkel, den die Hauswand mit dem Ofen bildete, war ein mäßig großer Stein, ein von den Kindern ersehntes und oft umstrittenes Plätzchen. Warm und gemütlich saß man dort zu zweit oder dritt und erzählte sich mit leiser Stimme - doppelt schön, wenn draußen der Wintersturm durch das Dorf raste und Frau Holle ihr Bett schüttelte, daß große Wolken Schnees die Luft verfinsterten.

In den Stuben kleinerer Bauern und Tagelöhner lief oft in der Höhe des oberen Türbalkens ein hölzernes Gesims; hier lag die Bibel und das Gesangbuch, ebenso der Kalender, in den die wenigen, für den Bauern wichtigen Daten, z. B. die Tage der Zinszahlung, eingetragen wurden; hier standen die Arzneigläser und Ähnliches.

Mehr nach dem oberen und unteren Ende des Dorfes hin lagen die Häuser der Tagelöhner und Handwerker. Zur Miete wohnten nur wenige Leute. Der Wunsch, ein eigenes Haus zu besitzen und in demselben unbelästigt von fremdem Befehl und Eingriff, als eigener Herr zu walten, dieser echt deutsche Charakterzug, trat auch hier überall hervor. Jeder suchte ein eigenes Heim zu gewinnen, wenn auch das Häuschen nur klein war, nur aus hohem Erdgeschoß und drei Stuben und Küche bestand, und darüber der Bodenraum.  Unter den Wohnräumen , zu denen meist eine hohe steinerne Treppe führte, war der eine Teil ein Stall für eine oder ein paar Ziegen, der andere Teil Keller. Jeder suchte seinem Haus oder Häuschen ein freundliches Ansehen zu geben, es wurde mit Kalkfarbe gestrichen und sauber gehalten. Wie bei vielen Höfen lag neben oder hinter dem Haus ein Garten oder Gärtchen, für das die Hausfrau nach Kräften sorgte. Daß es in der Anlage der Höfe, in dem Bau der Wohnhäuser gar vielerlei Verschiedenheiten und Abstufungen gab - vom Besitz des Großbauem zu dem des mittleren und kleineren Bauern oder zu dem der Handwerker und Tagelöhner, ist natürlich. Das Leben ist ja keine mathematische Formel, die unveränderlich bleibt, das Leben ist Bewegung, Freiheit und Selbständigkeit.

Das Handwerk

Trotz allem Fleiß der Bewohner konnte die Landwirtschaft nicht alle ernähren. Daher gab es die in jedem Dorf nötigen Handwerker, Schmiede, Wagner, Schreiner, Schuster, Schneider usw., außerdem Krämer, die Kolonialwaren vertrieben. Andere notwendige Waren kaufte man in Berka oder Gerstungen. Außerdem trieben manche Einwohner Handel. Montag morgens brachen sie auf und wanderten auf die benachbarten Dörfer, vor allem ins Werratal bis Vacha und Tiefenort. Dort kauften sie Eier, Butter, Käse, Geflügel aller Art und brachten diese Nahrungsmittel auf die Wochenmärkte in Eisenach. Den Weg hin und zurück machten sie meist in einem Tag, eine tüchtige Leistung als Fußweg, da die Entfernung bis Eisenach 6-7 Stunden beträgt. Besonders begehrt waren auf dem Markt in dieser Stadt die Eier der Kiebitze, die in dem Räten bei Obersuhl in großer Menge lebten. Daß dieser Handel in den 50er und anfangs der 60er Jahre so lebhaft betrieben. wurde, hatte seinen Grund mit darin, daß in kurhessischer Zeit solche Händler keine Gewerbesteuern zu zahlen hatten. Doch war der Verdienst durch den Handel teuer genug erkauft. Denn auch bei Regen, Schneesturm und Frost stundenweit zu wandern war mühselig und gefährlich genug. Kamen doch mehrmals Leute im Winter um, so ein braver, fleißiger Mann namens Nickel , der bei der Heimkehr sich dicht vor dein Dorf auf einen Stein setzte, um einen Augenblick zu ruhen, einschlief und nicht wieder erwachte. - In preußischer Zeit nach 1866, mußte jede handeltreibende Person einen Gewerbeschein lösen. Wenn auch die Steuer für den Einzelnen nicht hoch war, fiel sie doch ins Gewicht, wenn in einer Familie 2-3 Personen, auch abwechselnd, auf den Handel gingen. Daher wurde dieser Erwerb späterhin von manchen aufgegeben.

Als in den 40 er Jahren die E i s e n b a h n von Kassel nach Gerstungen-Eisenach gebaut wurde, tat sich für viele Männer eine andere Quelle des Erwerbs auf. Dort wurden, namentlich beim Bau des Tunnels, den 2 Wallonen leiteten, manche beschädigt einige wurden Krüppel. Nachdem die Strecke Bebra-Gerstungen fertiggestellt war, erfolgte  die feierliche Einweihung. Als der festlich geschmückte Eisenbahnzug kommen sollte, strömte alles im Dorf hin, um das neue Verkehrsmittel zu sehen. Eine Frau, die gerade Brot backte, ließ Brot und alles im Stich, um die neue Eisenbahn zu sehen, fand aber bei ihrer  Rückkehr alles Brot verbrannt - so groß ist die Macht der Neugierde. Nach der Vollendung der Bahn fanden viele Obersuhler als Streckenarbeiter, Bahnwärter oder Angestellte auf dem Bahnhof Gerstungcn eine Versorgung. Diese Stellen wurden eifrig gesucht und umworben, boten sie doch dem Mann ein sicheres Brot.

Die Lebensweise

In ihrer Lebensweise, d. h. im Essen und Trinken waren die Dörfer einfach und bescheiden. Des Morgens gab es zum ersten Frühstück Kaffee oder Milch, dieser sog. Kaffee hatte meist keine Bohne vom Kaffeebaum gesehen, es waren in Würfel geschnittene und gedörrte Runkelrüben aus denen mit einem Zusatz von Cichorie das Getränk hergestellt wurde. Nur bei den Vermögenden wurden Kaffeebohnen rnitverwendet. Zum Kaffee gab es Brot vielleicht mit Mus oder Saft, höchstens Schmalz. - Um 9 Uhr folgte das 2. Frühstück, das reichlich und gut sein mußte. Da gab es zum Brot Butter, Wurst mageren Speck, Käse, als Getränk ein Gläschen Schnaps oder leichtes Bier. - Mittagessen war um 12 Uhr, dann wurde eine Mittagspause in der Arbeit gemacht. Waren die Leute zu Hause, so gab es bei den Anspännern und Tagelöhnern vielfach nur gesottene Kartoffeln mit Sauermilch oder Schmalzgrieben. Von den Großbauern, die Leute im Feld hatten, wurde ein gut gekochtes Gemüse mit Rauchfleisch oder Wurst verlangt. - Des Nachmittags gab es Kaffee mit Brot und Zukost, des Abends oft gesottene Kartoffeln und Dickmilch oder Kartoffeln mit Kaffee, vielleicht auch Brot mit Butter und Käse oder eine dicke Suppe. -

Am Sonntag war das Mittagessen etwas besser. Bei den Wohlhabenden gab es wohl ein Stück frisches Fleisch oder Rauchfleisch mit Gemüse. Bei den mittleren Leuten erschien dann Zusammengekochtes auf dem Tisch, im besten Fall mit etwas Wurst oder Rauchfleisch, Bei den Armen waren wieder.Kaftoffeln das stehende Gericht. Die übrigen Mahlzeiten unterschieden sich kaum von denen in der Woche.

Die Kartoffel spielte also in der Ernährung eine große Rolle, dies wurde auch dadurch begünstigt, daß das Ackerland für den Anbau dieser Frucht außerordentlich geeignet w

 

Die Obersuhler

Da Obersuhl ein echtes Bauerndorf war, traten alle Tugenden und Fehler unserer deutschen Bauern deutlich hervor. Zu ihren Vorzügen gehört ihr großer Fleiß und ihre Arbeitsfreudigkeit, die man sogar Arbeitsfanatismus nennen könnte. Dazu kam ihr häuslicher Sinn und die Sorge für ihre Angehörigen, womit sich Sparsamkeit und Einfachheit verband. Groß war auch ihr Festhalten an alter Sitte, an altem Herkommen und Brauch, daher fanden Neuerungen im Leben, in der Arbeitsweise nur schwer Eingang. Wie überall unsere Bauern hielten  die Obersuhler darauf, daß die Stellung, die jedem gebühre, vom anderen beachtet wurde. Der Großbauer sah es als selbstverständlich an,  daß ihm sein Rang in der Gemeinde nicht verkürzt wurde, denn der richtige Bauer ist stets Aristokrat. Daß der Tagelöhner dem Großbauern gleich sein soll, ist ihm unverständlich. .

Groß war auch der religiöse Sinn, wie der sonntägliche Gottesdienst bewies. Daß dies nicht bloß ererbtes Gut, nicht bloß Gewohnheitschristentum war, zeigten zahlreiche Beweise christlicher Frömmigkeit. Daraus ergab sich auch manche alte schöne Sitte, z. B. daß beim Verlesen des göttlichen Wortes im Gottesdienst die Gemeinde sich erhob, daß beim Nennen des Namens Jesus alles sich ehrfurchtsvoll verneigte - eine Sitte, die - wie ich höre -jetzt nicht mehr besteht.

Gern war man bereit, anderen zu helfen, den Nachbarn und Freunden gefällig zu sein. Chakteristisch war ferner die Liebe zur Heimat, zu dem Dorf, zu dem Haus, wo man geboren war. Wohl trieb die Not des Lebens manche aber das Weltmeer, aber das Heimweh verließ die meisten nicht, mehrere kehrten wieder in die alten engen Verhältnisse zurück, so ein in der Nähe des Pfarrhauses wohnender Kleinbauer. Gefragt, weshalb er nicht drüben geblieben wäre, erwiderte. er: "Ja, wenn das Heimweh nicht wäre". Diesen Vorzügen standen auch Fehler gegenüber. Wie anderwärts herrschte auch in Obersuhl bei manchen großer Starrsinn und hartnäckiges Festhalten an einer einmal gefaßten Meinung, an einem Plan.  Bei anderen fand sich als Übermaß der Sparsamkeit Geiz und Habsucht, bei einigen wenigen Rechthaberei und Prozeßsucht  Bei der Jugend trat Streitsucht und Rauflust zu Tage, hervorgerufen und gesteigert durch den Kitzel andere zu uzen und zu verspotten. Manches anfangs friedliche Zusammensein schloß daher mit einer tüchtigen Prügelei. Schlimm wurde es, wenn man zum Messer griff, dann gab es zuweilen gefährliche Wunden. Doch ernste Strafen dämmten dies Unwesen ein . Den Hauptmesserhelden strafte der durchaus humane Amtmann in Nentershausen einst höchst empfindlich. Als dieser Held sich nicht rechtzeitig zu der Gefängnisstrafe stellte, die ihm sein Tun zugezogen hatte - er wollte erst die Kirmes mitmachen -, ließ ihn der Amtmann ein paar Tage vor der Kirmes durch den Gendarmen holen. Nun machte sich die Mutter des Bestraften nach Nentershausen auf den Weg, um  ihren Jungen loszubitten. Der Beamte gab dieser Forderung nicht nach, da überschüttete sie ihn mit einer Flut von Vorwürfen und Schmähungen. Die Folge war, sie wurde wegen Beleidigung des Richters ein paar Tage eingesteckt und saß nun wie der geliebte Junge die Kirmes über in Nummer Sicher. Das Mittel half.  Dieser Bursche hütete sich künftig vor solchem Vergehen. Überhaupt nahm die Messerstecherei allmählich ab. -

Unredlichkeit und Diebstahl kam verhältnismäßig wenig vor. Nur ein paar arme Familien suchten ihren Unterhalt durch Diebereien zu verbessern. Sie arbeiteten wohl zeitweise, benutzten aber die Gelegenheit zu mausen. Zu diesem Kreis gehörte die alte S. Als sie einst durch Untersuhl ging, saß eine Gans auf der Straße. "Gans, ich sage Dir, geh' nach Haus", ermahnte die Alte den Martinsvogel. Die Gans rührte sich nicht. Sofort packte die S. sie am Hals, schwenkte sie in ihre Kötze und eilte weiter. Ein Nachbar des Besitzers hatte den Vorgang gesehen und verständigte den Geschädigten. Rasch eilte dieser mit zwei Söhnen  jeder mit einem festen Stock bewaffnet, der Diebin nach und holten sie vor Obersuhl ein. Die Gans wurde  ihr abgenommen, sie selbst weidlich verbläut. "Ich wollte ja die Gans nur Ordnung lehren", verteidigte sich die S. "Und wir bringen Dir jetzt Ordnung und Redlichkeit bei" , war die Antwort. Solche Selbsthilfe fruchtete mehr als Gefängnisstrafe. Da die Obrigkeit und das ganze Dorf  scharf gegen solche diebische Gesellen auftrat, zogen sie es vor, aus dem Dorf zu verschwinden. Seitdem hörten die Diebstähle mit einem Schlag auf.

 

Der Broterwerb

Fragen wir: "Wie erwarben die Leute das tägliche Brot?", so lautet die Antwort: Der größere Teil, die Bauern und Tagelöhner  z. T. auch die Handwerker lebten vom A c k e r b a u . Das Ackerland der Obersuhler Flur ist im allgemeinen von mittlerer Güte, namentlich in der Ebene, und lohnt den fleißigen Bebauer ausreichend; nur die Länder an der Höhe nach Richelsdorf hin sind dürftig und bringen wenig Frucht. Die Wiesen lagen teils nach dem Räten zu, teils nach Untersuhl und Berka hin; namentlich die letzteren, in der sog. Au  waren gut. Der Fleiß der Dörfer gewann Äckern und Wiesen ihren Ertrag ab. Denn von frühmorgens bis zum  Läuten der Abendglocke ging die Arbeit ihren regeImässigen Gang. Der Herr selbst und seine Kinder, sobald sie helfen konnten, arbeiteten mit oder führten die Aufsicht während die Hausfrau zu Haus für das Essen sorgte. War im Herbst die Feldarbeit beendet, so begann das Dreschen des Getreides. Von des Morgens 3 oder 4 Uhr an ertönte beim Schein einer Laterne der Klang der Dreschflegel in gleichnamigem Takt. War die festgesetzte Zahl der Garben erledigt, so folgte das Reinigen das Getreides, entweder durch Handarbeit mit der Worfschaufel oder durch eine hölzerne Reinigungsmaschine. Dreschmaschinen aber, die sich heute überall finden, waren damals unbekannt. Daß bei der Arbeit auch Scherz und Spaß getrieben wurde, manchmal recht handgreiflicher Art,  wird niemand wundern. Solcher Spott und Uz bildete gleichsam die Erholung von der schweren körperlichen Arbeit, erhielt den Geist munter, den Körper ausdauernd. Nur wenige Wochen blieben demnach nach Beendigung der Winterarbeit zur  Ruhe. Sobald aber die Frühlingssonne lockte, begann nun unverdrossen die Arbeit von neuem. So ging es Jahr für Jahr weiter bis der Körper steif und schwach geworden war. Dann blieben die Alten zu Haus. Doch gab es auch für sie noch leichte Arbeit in Haus, Hof und Garten, oder der alte Bauer saß vor der Haustür und rauchte behaglich seine kurze Pfeife. Die Großmutter strickte Strümpfe oder flickte und nähte für die kleinen Reißteufel, wie sie wohl scherzend die Enkel nannte, die gar nicht verstanden, wie schnell Löcher in den Jacken, Kitteln und Hosen entstanden. Gern verwahrte die Ahne die Kleinsten und beobachtete mit Interesse deren Entwicklung,

Die Auswanderer

Da die Industrie im Dorf und in der nächsten Umgebung völlig fehlte, - die jetzt vorhandenen K a l i w e r k e  im  W e r r a t a l  bei Berka, Heringen und Vacha sind erst später angelegt worden - so reichten die erwähnten Erwerbsmöglichkeiten doch nicht aus, um der wachsenden Bevölkerung Brot zu verschaffen. Daher setzte in den 40 er und 50 er Jahren eine ziemlich starke Auswanderung nach Amerika ein. Zuerst zogen junge, unverheiratete Leute, Burschen und Mädchen über das Weltmeer und suchten ihr Glück in der neuen Weit. Da die meisten guten Verdienst fanden, einzelne drüben sogar zu Wohlstand kamen, so folgten bald auf ihre verlockende  Schilderung der amerikanischen Zustände auch ganze Familien nach. Vielen wurde, wenn sie auch vorher mit dem Gegenteil geprahlt hatten, doch dieser Schritt recht schwer. Denn die Heimatliebe steckte tief in ihren Herzen. Das sah man recht, wenn es an das Abschied- nehmen ging. Vor der Abreise ging der A u s w a n d e r e r bei allen Verwandten und Freunden umher und sagte förmlich Lebewohl.

Fast alle verabschiedeten sich auch von ihrem Pfarrer und nahmen dessen gute Winke und Ermahnungen willig auf. Am letzten Sonntag besuchten die Amerikaner, - so wurden sie genannt - zum letztenmal den Gottesdienst. Des Nachmittags zogen sie, die Röcke mit bunten Bändern, die Mützen oder Hüte wenigstens mit gebackenen Blumen geschmückt, mit ihren Freunden,  zu einer Reihe untergefaßt, durch das Dorf und sangen Abschiedslieder. Aus allen Häusern winkte man ihnen zu und gab ihnen noch gute Wünsche mit auf den Weg. Des anderen Morgens ging es in der Frühe zur Eisenbahn, die den Auswanderer nach Bremen führte. Hier ging es zu Schiff, und bald entschwand die Heimat ihren Blicken, meist auf immer.

Die Briefe der Ausgewanderten mit den Antworten der Dörfer wurden fast ohne Ausnahme zu meinem Vater, dem Ortspfarrer, gebracht. Er sollte aus dem Brief vom fernen Lande ersehen, wie gut es ihren Angehörigen im neuen Vaterland gehe, zugleich wurde er gebeten, noch einen Gruß beizufügen und die englische Adresse zu schreiben, denn damit kamen die Dörfer nicht zurecht. So hörte man immer wieder von dem Schicksal der Landsleute im fernen Land, es blieben so, wenn auch schwache, Verbindungsfäden zwischen diesen und der Heimat.

Ende            Mehr im angegebenen Buch "Obersuhl..." von Georg Ide